Fabelhafte Eigenschaften by Soboczynski Adam

Fabelhafte Eigenschaften by Soboczynski Adam

Autor:Soboczynski, Adam
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Klett-Cotta
veröffentlicht: 2014-12-31T16:00:00+00:00


10

Helene, die mit ihrem Exmann in einer recht dringenden Finanzsache, die das Studium ihres gemeinsamen Sohnes betraf, sprechen wollte, hatte an einem Abend vergeblich an seiner Haustür geklingelt. Sie sah von der Straße aus, dass er da war, denn schwaches, von der Küche her ausstrahlendes Licht erleuchtete das Wohnzimmerfenster. Vermutlich saß er, sagte sich Helene, wieder an Hannes Maria Wetzlars nachgelassenen Manuskripten – dieser Schriftsteller, der ihr aufgrund der Schwermut, mit der er vom schnöden Alltagsgeschehen erzählte, das ziemlich auf der Stelle trat, seit je überschätzt schien. Aber vielleicht, dachte Helene, hatte sie einfach kein Sensorium für Geschichten, die beständig in Reflexionen abglitten, statt (wie es sich ihrer Ansicht nach gehörte) in verästelten Handlungssträngen einem dramatischen Höhepunkt entgegenzutreiben.

Sie klingelte mehrmals, aber Werner Kerst machte einfach nicht auf. Sie war derlei Exzentrik gewohnt. Es war manchmal über Wochen nicht möglich, ihn telefonisch zu erreichen, doch an diesem Sommertag beschlich sie erstmals ein Gefühl der Sorge. Kerst hatte während ihrer letzten Begegnung vor zwei Monaten beiläufig über Schwindelanfälle und Atemnot, Begleiterscheinungen des Alters, wie er meinte, geklagt, und sie sah ihn vor ihrem geistigen Auge mit einem schmerzverzerrten Gesicht in der Küche liegen – ein Szenario, das an Genauigkeit und Detailreichtum gewann, je häufiger sie erfolglos die Klingeltaste betätigte.

Sie rief schließlich die Polizei herbei. Aus einem Streifenwagen stiegen schon wenige Minuten später zwei Beamte, die Protagonisten einer Boulevardkomödie hätten sein können: ein Dünner mit sehr hoher Stimme und ein kleiner Rundlicher mit auffällig dummen, eng beieinanderstehenden Augen, der so nuschelnd sprach, dass man ihn kaum verstand. Helene sagte, was in mancherlei Hinsicht nicht ganz der Wahrheit entsprach, dass sie seit Tagen versuche, zu ihrem Gatten zu gelangen. Er sei Diabetiker und neige zu Verwirrung, sie fürchte um sein Leben. Die Polizisten, die bei fast allen Nachbarn klingeln mussten, bis schließlich die Haustür mit einem Surren nachgab, traten mit Helene in den Hausflur und liefen zwei Stockwerke hinauf, wo sie sich für einen Moment sammelten. Der Dünne klopfte mit überraschender Vehemenz an Kersts Wohnungstür und rief grell: »Polizei! Aufmachen!«

Zunächst hörten sie nichts, dann aber ein Quietschen und Poltern. Offenbar hatte sich jemand mit Wucht von einem Stuhl oder einem Sessel erhoben und dabei etwas umgeworfen. Helene und die Polizisten hörten jetzt schnell herannahende Schritte. Die Tür wurde mit einer Geschwindigkeit aufgerissen, die die Wartenden einen halben Schritt zurücktreten ließ. Kerst stand wie festgefroren vor ihnen, nur seine Augen sprangen lebhaft von einem zum anderen. Helene wollte gerade etwas sagen, aber da war die Tür bereits mit einem Rasseln wieder ins Schloss gefallen.

Dieser Mann war ein Ärgernis. Helene wusste beim besten Willen nicht mehr, wie es hatte geschehen können, dass sie mit Kerst eine Ehe eingegangen war. Sie hatten sich, die Szene kam ihr heute unwirklich vor, vor über 20 Jahren in einem Supermarkt kennengelernt. Kerst hatte in einem Gang mit Konservendosen in das unterste Regal gegriffen und, als er sich mit den Ravioli in der Hand aufrichtete, laut aufgeschrien und an den Rücken gefasst. Ein gewöhnlicher Hexenschuss, der ihn alle paar Monate erwischte.



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